Am 16. Oktober betrat ein Erwerbsloser das Jobcenter Viernheim, zog während des Gesprächs mit dem Fallmanagement eine Machete und legte sie sich auf den Schoß. Der Mann wurde vom Sicherheitsdienst des Hauses verwiesen und später von der Polizei verhört. Am 29. Oktober forderte die Gewerkschaft ver.di im Bergsträßer Anzeiger stärkere Sicherheitsvorkehrungen in den Jobcentern: „bauliche Veränderungen wie Sicherheitsschleusen, geschlossene Servicebereiche und Kundentoiletten außerhalb des Servicebereichs. Auch für einen Sicherheitsdienst sollen Eigenbetriebe und Kreisverwaltung sorgen.“ (BA-Artikel hier als pdf). Ver.di betont zwar, damit keine „keine Hilfeempfänger diffamieren oder kriminalisieren“ zu wollen, aber wir sehen das anders und haben deshalb am 6.11. folgenden Brief geschrieben (der bis heute nicht beantwortet wurde).
——————–
Liebe Kolleginnen und Kollegen von ver.di,
euer Schreiben bezüglich der Sicherheit in Jobcentern (Bergsträßer Anzeiger, 29.10) fanden wir – freundlich ausgedrückt – befremdlich. Einige von uns konnten nur schwer daran gehindert werden, mit einer Presseerklärung zu antworten. Nach reiflicher Diskussion haben wir beschlossen, euch zunächst diese Mail zu schreiben.
Um es klar zu sagen: Natürlich gibt es keine Rechtfertigung dafür, Fallmanager mit Macheten oder sonstigen Dingen zu bedrohen oder sie gar zu verletzen. Aber um auch das klar zu sagen: Es gibt auch keinen Grund, Erwerbslose unter Generalverdacht zu stellen, und sie vor dem Betreten des Jobcenters durch Sicherheitsschleusen laufen und von Security-Leuten durchsuchen zu lassen. Ihr klagt nur darüber, dass Fallmanager beleidigt und bedroht werden. Über die Ursachen verliert ihr kein Wort.
Wie nennt ihr es, wenn ein Fallmanager einem Erwerbslosen existenzbedrohende Sanktionen aufbrummt, bloß, weil eine Meldefrist versäumt wurde (von den in diesem Jahr bis Oktober ausgesprochenen 521.000 Sanktionen waren das 352.233 Fälle – also mehr als 50%). Ist das keine Gewalt, wenn von den elenden 374 Euro ALG II auch noch 30% abgezogen werden? Wenn man nicht weiß, wie man den Monat überstehen und die Kinder versorgen soll? Oder wenn man in Jobs gezwungen wird, von denen man nicht leben kann? Oder wenn ALG-Bescheide, die das Fallmanagement erstellt, mal wieder fehlerhaft sind und man dadurch zu wenig Leistungen bekommt (mehr als der Hälfte aller Widersprüche gegen ALG-II-Bescheide wird von den Sozialgerichten stattgegeben). Ist all das keine Gewalt?
Wieso redet ihr nicht auch darüber? Wieso fordert ihr nicht – wenn ihr euch schon um Leute sorgt, die sich dafür hergeben, die Gewalt von Hartz IV an den Erwerbslosen zu exekutieren – dass diese Fallmanager wenigstens vernünftig ausgebildet werden? Das würde die Fehlerquote in den ALG-Bescheiden und das daraus resultierende Elend erheblich senken. Und wieso fordert ihr statt zusätzlichen Sicherheitskräften nicht zusätzliche Fallmanager? Das würde dazu führen, dass sie auch Zeit hätten, auf die Bedürfnisse der Erwerbslosen einzugehen, und Erwerbslose nicht nur nach dem Friss-oder-stirb-Prinzip in Ein-Euro-Jobs oder Pseudoqualifikationen gepackt werden, um sie aus der Statistik zu kriegen. All das würde mehr zu einer entspannteren Atmosphäre in den Jobcentern beitragen, als die von eure geforderte Law-and-order-Politik.
Wir sind wirklich erschrocken über diese einseitige Stellungnahme von euch und würden uns freuen, solche Statements von euch in Zukunft nicht mehr lesen zu müssen. Bislang waren wir von ver.di jedenfalls kompetentere Aussagen gewohnt.
Gute Besserung wünscht die Bergsträßer Erwerbsloseninitiative Andere Wege
———————–
Update 18.12.: Heute kam doch eine Antwort von ver.di, die wir hier abdrucken:
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen,
„Gut gemeint ist nicht immer gut gemacht“ das könnte man vielleicht als Überschrift über die Aktion von ver.di nach dem Vorfall in Viernheim, als eine Jobcentermitarbeiterin von einem Mann mit einer Machete bedroht wurde, schreiben.
Wir wollten möglichst schnell reagieren und die Ängste der Mitarbeiter des Jobcenters aufnehmen und ernst nehmen und auch die im Betrieb geführte Diskussion über die Sicherheit der Beschäftigten.
Wir haben dann aber versäumt, die Diskussion im öffentlichen Raum weiterzuführen und die seit Jahren verfehlte Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik verantwortlich dafür zu machen, dass sich Vorfälle, wie die in Viernheim offensichtlich häufen. Dadurch entstand vielleicht der Eindruck, ver.di habe sich von seinen politischen Positionen zur Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik verabschiedet. Das ist nicht der Fall.
Ein heute erschienener Flyer „10 Jahr Hartz IV: Kein Grund zum Feiern“ liegt diesem Schreiben bei.
Mit kollegialem Gruß
Karin Harder
Geschäftsführerin